Boris Goudenow - Presseschau

Barockoper erwacht nach fast 300 Jahren Dornröschenschlaf zum Bühnenleben

"Oper eines 29jährigen Hamburgers nach 295 Jahren in Hamburg uraufgeführt" - wer wollte dieser Schlagzeile Glauben schenken? Und doch ist sie seit dem Wochenende wahr. Die Geschichte begann anno 1710. Vor der Gänsemarkt-Oper hatten sich kürzlich zwei junge Brauseköpfe wegen eines strittigen Cembaloparts ein Duell geliefert: der nachmals weltberühmte Georg Friedrich Händel und der heute nur noch als Musiktheoretiker bekannte Johann Mattheson - tatsächlich einer der bedeutendsten Musiker und Musikgelehrten des Barockzeitalters, dessen "stachelichte Feder" die Zeitgenossen fürchteten. Daß er, auch wenn ihm eine "Verstopfung des Gehörs" als Domkantor zu schaffen machte, als Opern- und Oratorienkomponist seinem großen Hamburger Mitbürger Telemann durchaus das Wasser reichen konnte, blieb bisher weitgehend unentdeckt. Durch Auslagerung und Brandverluste während des Zweiten Weltkriegs schienen die meisten Noten und Texthefte verloren, bis 1998 ein Konvolut Hamburger Musikhandschriften aus Armenien in die Staatsbibliothek heimkehrte. Darin fanden sich etliche Stücke von Matthesons Hand, auch die Partitur der Oper "Boris Goudenow oder der durch Verschlagenheit erlangte Thron".

Ein Fund, der den Altonaer Kirchenmusiker und Musikforscher Johannes Pausch (der seit Jahren das Wahnsinnsunternehmen verfolgt, sämtliche Passionen Telemanns wieder aufzuführen) nicht schlafen ließ, bis er die barocke Zaren-Oper in seiner Edition "Musik Landschaften Hamburg" zum Druck befördert hatte - nötige Voraussetzung, um ihre Aufführung - tatsächlich ihre Welturaufführung - ins Werk zu setzen. Passend zur kommenden Ausstellung russischer Ikonen bot das Bucerius Kunst Forum jetzt seinen ebenerdigen Ausstellungssaal als Spielort für die machtlüsternen Kabalen am verwaisten Zarenhof Ende des 16. Jahrhunderts, die auch in Mussorgskis Oper "Boris Godunow" anklingen - ein Opernstoff, den die Hamburger damals wohl aus Rücksicht auf den Rußland-Handel nicht auf die Bühne zu bringen wagten. Um so größer nun die Rehabilitationsleistung, die Jacobi-Kantor Rudolf Kelber mit den stimmächtigen Zaren (Joachim Gebhardt als ermatteter Moskauer Großfürst), Bojaren, Prinzen samt bluts- oder interessenverwandter Weiblichkeit erbrachte, rhythmisch angestachelt und in ihren Leidenschaften bestärkt vom historischen Instrumentarium des Cythara-Ensembles. Als närrisch-buffoneske Kontrastfigur gewann Wilfried Jochens den Sympathiepreis.     ll

DIE WELT, 31. Januar 2005