Boris Goudenow - Presseschau

In Gefahr und höchster Not bringt der Mittelweg den Tod

Seit 15 Jahren rekonstruiert der Jurist und Organist Johannes Pausch das Gesamtwerk von Georg Philipp Telemann und dessen Zeitgenossen

Von Monika Nellissen

Nüchterne Naturen dürften Johannes Pausch für einen zwar hoch gebildeten, aber nichtsdestoweniger kauzigen Sonderling halten, der es liebt, in aller Ausführlichkeit musikalische Sachverhalte zu erläutern und mit ironischen Randbemerkungen zu würzen. Als Einzelkämpfer innerhalb der "Telemann-Mischpoke", wie er sagt, hat es sich der 52-Jährige in geradliniger Querköpfigkeit zum Ziel gesetzt, das musikalische Werk von Georg Philipp Telemann - er wirkte in Hamburg von 1722 bis zu seinem Tod 1767 - und das seiner komponierenden Zeitgenossen aufzuspüren und so genau wie möglich zu edieren. Bei seiner Arbeit, die er nunmehr seit fünfzehn Jahren betreibt, stößt Pausch auf Schätze, bei deren Entdeckung er sich nach eigenen Worten "kneifen" muss, weil das Gefundene durch Krieg und Raub als "abgängig" auf die Verlustliste gesetzt worden war. Der Jurist Pausch verwendet solche Termini. "Als solcher bin ich kühl bis ans Herz. Aber als Kirchenmusiker und Herausgeber von Kompositionen bin ich tief bewegt, wenn beim Studieren der Partitur die Klangfarben vor meinem inneren Ohr entstehen und die Großartigkeit eines Werks deutlich wird", beschreibt der Hamburger seine beiden Seelen, die in keinerlei Widerstreit zu stehen scheinen.

Kneifen musste sich Pausch, als er in der Staatsbibliothek beim Quellenstöbern auf die Oper "Boris Goudenow" des Hamburgers Johann Mattheson stieß, des gleichaltrigen Kollegen von Telemann. Eine Zarenoper von 1710, aus politisch-ökonomischen Interessen zwischen den Handelsstädten Hamburg und St. Petersburg nie aufgeführt und jetzt durch Pauschs Edition zum Leben erweckt. Im kommenden Jahr wird diese einzige Barockoper mit einem russischen Stoff im Rahmen des wichtigsten amerikanischen Barockmusik-Festivals, dem Boston Early Music Festival, uraufgeführt. Heute trifft sich Pausch mit den künstlerischen Leitern des Festivals, Stephen Stubbs und Paul O'Dette, in der Staatsbibliothek, "um das heilige Original in Augenschein zu nehmen".

Ein Triumph für den hünenhaften Mann, der sich selbst in aller Bescheidenheit als "Publizist" versteht. Als solcher hat er in seiner "Sammlung Hamburgische Musikaltertümer" ein Großteil der Werke von Mattheson, oder des Hamburger Kantors Thomas Selle ediert und natürlich die von Telemann. Immer nach dem Grundsatz: In Gefahr und höchster Not bringt der Mittelweg den Tod. Bewusst nimmt er dabei die "unbequeme Position" eines kritisch Nachschaffenden ein, wenn es sich um Fragmente handelt, die der Ergänzung bedürfen.

Seine Suche nach bislang ungehobenen Schätzen verdeutlicht er mit einem Bild: "Es ist wie in Budapest. Wenn Sie da irgendwo gegen einen Felsen hauen, kommt Wasser raus." So gesehen ist Pausch unermüdlich mit dem Pickel unterwegs. Er klopft die Bestände von Bibliotheken und Archiven ab und entdeckt Partituren, die der Bearbeitung harren. "Musik muss aufgeführt werden. In Papierform kann sie lediglich in Seminaren abgehandelt werden. Wobei ich immer wieder feststellen muss, dass es extragalaktisch schlechte, zerstörerische Ausgaben gibt", tadelt Pausch. "Man muss als Herausgeber mit einem Stalinismus gegen sich selbst zu Werke gehen. Man darf nicht raten, man muss wirklich forschen, was drin steht", ist Pausch unerbittlich gegen sich selbst. Wenn er sich mit der "Greisenschrift" Telemanns beschäftige, dann sei das zwar eine Strafe Gottes, aber er nehme sie an, um den Urfassungen zu ihrem Recht zu verhelfen. In den letzten zwölf Jahren hat er auf diese Weise aus den späten Telemann-Passionen, die als unentzifferbar und somit als unedierbar galten, den ursprünglichen Text herausgefiltert. So macht er es auch beim barocken "Siebengestirn" hamburgischer Kantoren, deren unsachgemäße Restaurierungen und fehlerhafte Abschriften sich bisweilen anhörten wie "Katzenquälerei". Pausch, der auf diplomatischem Parkett wohl scheiterte, sagt, was er über manche barocke Aufführungspraxis denkt: "Die Zuhörer müssten sich beim Gesang von männlichen Sopranen einnässen vor Lachen." Für die Staatsoper hat er übrigens zwei Vorschläge: Telemanns "Emma und Eginhard" und Matthesons "Cleopatra".

DIE WELT, 7. Januar 2004